Märkisches Wuppertal: Zur Wiege der Industrie am Eberswalder Finowkanal

„Märkisches Wuppertal“ so wird Eberwalde im Norden Berlins immer wieder bezeichnet. Zurecht, denn hier liegt die Wiege der brandenburg-preußischen Industrie. Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten Werke entlang des Finowkanals wie die Eisenspalterei, das Messingwerk, das Alte Walzwerk sowie die Papierfabrik und das Kraftwerk Heegermühle. Mit 400 Jahren ist er der älteste noch befahrbare Kanal Deutschlands.

Als traditionsreiche Industriestadt hat Eberswalde stark unter der Wende gelitten: Die meisten Fabriken wurden in den 1990ern geschlossen oder deutlich verkleinert. Doch seit der Landesgartenschau 2002 blüht die Stadt wieder auf. Aus dem grauen Verkehrsweg zwischen den Werkshallen wurde eine grüne Flanierpromenade für Spaziergänger, Radelnde, Familien und Freizeitkapitäne. Rechts und links die verfallenden, aber stolzen Zeugnisse längst vergangener Aufbruch- und Gründerzeiten. Auf manchen Werksgeländen wird weiter produziert, manche wurden zum Park und Familiengarten, manche verwildern. Railtripping führt Dich hindurch.

Friedrich der Große lies den zuvor fast vergessenen Finowkanal ausbauen, der gut ein Jahrhundert brach lag. Damit war wieder eine Verbindung von der Havel zur Oder und damit von Berlin zu den Ostseehäfen Stettin und Swinemünde (heute Szczecin und Świnoujście) hergestellt. Auf 30 Kilometern überwindet der Finowkanal 38 Meter Höhenunterschied – mit Hilfe von zwölf Schleusen. 40,2 Meter lang, 4,60 Meter breit und 1,40 Meter tief: Das waren die standardisierten Schiffsgrößen nach dem Finowmaß. Fast doppelt so lang, wie die Narrowboats auf dem Londoner Regent’s Canal.

Die Schleusen wurden so angelegt, dass immer zwei Schiffe hinein passten. Jeden Tag passierten sie Dutzende Kähne und Floßhölzer. 1898 erprobte Siemens & Halske die ersten elektrischen Treidelbahnen, die die Kähne zogen. Später wurden sie auch am Teltowkanal eingesetzt (siehe Railtripping-Radtour Teltowkanal). Diese Treidelweg folgt unsere Wanderung 22 Kilometer von Finow über Eberwalde zum Schiffshebewerk Niederfinow.

Die Webseite unser-finowkanal.eu erzählt die Geschichte und Geschichten entlang des Kanals – mal reinhorchen!

Ab 1698 entstand das erste Messingwerk Brandenburgs. Der Patriarch Gustav Hirsch sorgte sich um das Wohl seiner Arbeiter und baute ab den 1860ern die Messingwerksiedlung. Paul Mebes erweiterte sie immer weiter. 1913 wurde dabei bei Bauarbeiten mit dem Schatz von Eberswalde der größte Bronzezeitfund aufgetan. Bauhaus-Architekt Walter Gropius ergänzte 1932 die Kupferhaussiedlung. Eindrucksvoll neben an der auf vier Säulen fast 50 Meter hinausragende Wasserturm von Paul Mebes, von dem man heute einen weiten Ausblick aufs Finowtal hat.

Einblick in die Messingwerksiedlung der Webseite unser-finowkanal.eu

Zu den eindrucksvollsten Industriedenkmalen zählt das 1909 erbaute „Märkische Elektricitätswerk“ Heegermühle. Die Pläne lieferte der Ingenieur Georg Klingenberg, der an der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin eine neue Theorie des Kraftwerkbaus begründete. Die „Überlandzentrale“ versorgte weite Teile Nordbrandenburgs mit Strom. Sie galt lange Zeit als Musteranlage und wurde zum Vorbild für zahlreiche Kraftwerke weltweit. Sein letztes und größtes Werk war das Kraftwerk Klingenberg in Berlin-Rummelsburg.

Ab 1762 entstand die Papierfabrik Wolfswinkel, von der ebenfalls nur noch Ruinen vorhanden sind. Oft wechselten die Besitzer, bis Mitte des 19. Jahrhunderts Karl Marggraff übernahm, der die Anlagen immer weiter ausbaute. Die Berliner Siemens-Schuckertwerke hatten die Papierfabrik 1917 erworben und stellten fortan vor allem Kabel- und Isolierpapiere her. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verhinderten ehemalige Mitarbeiter die vollständige Demontage durch die Sowjets, indem sie Teile der Anlagen unbemerkt beiseite schafften. In den Jahren 1956/57 wurde die Produktion handgeschöpfter Büttenpapiere wieder aufgenommen Er war die einzige Produktionsstätte dieser Art in der DDR und die feinen handgeschöpften Papiere genossen weltweit einen guten Ruf: auch die britische Queen bestellte ihr Schreibpapier hier.

Längst abgerissen ist die Chemische Fabrik: Der 1894 als Linoleumfabrik gegründete Betrieb erlebte eine Blütezeit nach der 1921 erfolgten Übernahme Schering Berlin. Zwei Jahre später wurde dort in einem älteren Werksgebäude die Produktion von synthetischem Kampfer aufgenommen. Das Erzeugnis war in der Pharmazie und vor allem als Weichmacher für den Kunststoff Celluloid sehr gefragt.

Südlich der Drahthammerschleuse erstreckt sich die 1698 von dem Hugenotten Moise Aureillon gegründete Eisenspalterei. Ihr Name verweist auf eine Schneidewerk, mit dem gewalztes Eisen zur Weiterverarbeitung geschnitten wurde. 2002 war das 1992 stillgelegte Industriegelände Schauplatz der zweiten Landesgartenschau Brandenburgs. So wurde das 1816-1818 nach englischen Vorbildern errichtete Eisenwalzwerk mit seinen klassizistischen Fassaden saniert. Wahrlich größte Attraktion im heutigen Familiengarten ist der fast 60 Meter hohe Montagekran Eber mit seiner Aussichtsplattform.

Er ist verbliebener Rest der seit 1912 dort ansässigen Ardelt-Werke. Sie erlangten vor allem durch den Bau von Kränen Weltruf. Zu DDR-Zeiten spezialisierte sich der Betrieb auf die Herstellung von Hafen- und Werftkränen. Er war Teil des VEB Kombinat TAKRAF (Tagebauausrüstungen, Krane und Förderanlagen Leipzig), dessen Name noch heute auf zahlreichen Kränen prangt.

Seehafen Rostock, Hamburger Hafen, St. Petersburg, Rio de Janeiro: Hafenkräne aus Eberswalde waren qualitativ hochwertig und recht preisgünstig, weshalb sie mit ihrer Aufschrift TAKRAF in vielen Häfen weltweit zu finden sind. Für die DDR war das Kombinat ein wichtiger Devisenbringer. Doch re-investieren konnte der Betrieb seine Gewinne nicht. Und so waren Maschinen und Anlagen zum Ende der DDR veraltet und nicht mehr wirtschaftlich genug.

Nach der Wende ging das Unternehmen durch viele Hände. Seit 2008 gehört es zur Kirow-Gruppe, die sich den alten Gründernamen Ardelt gab. Entgegen aller Kritik an Ardelts Munitionsproduktion im ersten und zweiten Weltkrieg. Eine jüngere Eberswalder Erfindung und ein preisgekröhnter Exportschlager ist die mobile Containerbrücke „Feeder Server“ auf Schienen oder Gummireifen: So kommt der Kran zum Schiff, statt der Schiff zum Kran.

Die Eisenhalle westlich der Lichterfelder Straße wurde ursprünglich 1847-1849 von den Borsigwerken in Berlin-Moabit als Prototyp einer stützenfreien, beliebig erweiterbaren Konstruktion errichtet. Das Vorbild vieler Bahnhofs-, Fabrik- und Ausstellungshallen wurde dort um 1900 demontiert und auf den heutigen Standort am Finowkanal umgesetzt.

Mit der Verlegung von zwei im benachbarten Schwärzetal befindlichen Kupferhämmern entstand 1603 die erste Industriesiedlung im Finowtal. Neben dem 1776 erbauten Hüttenamt (Fassadengestaltung ursprünglich in Barockformen) prägen Werks- und Wohngebäude im klassizistischen Stil noch heute das Bild.

An die ehemalige Hufnagelfabrik Moeller & Schreiber erinnern nur noch das Kesselhaus mit dem hoch aufragenden Schlot (1882) und die spätklassizistische Fabrikantenvilla (1873). Immerhin waren bis vor 100 Jahren Pferdefuhrwerke das wichtigste Verkehrsmittel. Die für Pferdehufe verwendeten Hufnägel mussten einzeln von Hand geschmiedet werden – bis 1869 die beiden Ingenieure Julius Moeller und Clemens Schreiber eine Maschine zur Herstellung geschmiedeter Nägel konstruierten. Bereits nach wenigen Jahren deckte ihre Firma den größten Teil des deutschen Bedarfs ab und exportierte weltweit, zum Beispiel nach Russland, England und Südamerika. Die Hufnägel wurden per Schiff über den Finowkanal und per Eisenbahn transportiert.

Den Güterumschlag erleichterte ein 1908 von Borsig in Berlin gebauter Waggonaufzug: Mit seiner elektrohydraulischen Hebevorrichtung wurden beladene Güterwagen mit einem Gewicht von bis zu 25 Tonnen vom Werksgelände auf die sechs Meter höher gelegenen Fernbahngleise gehoben: Abwärts dauerte die Fahrt fünf, aufwärts mit den beladenen Waggons fünfzehn Minuten.

Auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs führt am Finowkanal die Stadtpromenade weiter. Dort, wo das Flüsschen Schwärze in den Finowkanal mündet, dort befindet sich die Altstadt Eberswalde. In der Steinstraße befindet sich im ältesten Fachwerkhaus das Stadtmuseum: Es zeigt die Stadtgeschichte und ihre industrielle Vergangenheit. Hier glitzert eine Nachbildung des 1913 gefundenen Goldschatzes – einem der größten Funde aus der Bronzezeit. Nebenan die Touristinformation: Ein Flyer führt zum Altstadtrundgang zu den neuen und historischen Bauten der Innenstadt.

Beim Bootsverleih an der Stadtschleuse kannst Du Kanus und Flöße mieten, um westwärts die Industriekultur entlang des Finowkanals zu erleben oder ostwärts zum Schiffshebewerk Niederfinow zu schippern – oder beides. Je weiter wir aus der Stadt kommen, desto mehr kommen wir in die Natur. Der Treidelweg – teils beiderseits des Kanals – führt durch Wälder, über Wiesen und Felder.

Nach elf Kilometern ist Hohenfinow erreicht: Ältestes Bauwerk ist die mittelalterliche Dorfkirche von etwa 1250. Ähnlich alt wie die Ursprünge der Stadt Berlin. Bemerkenswertestes Gebäude ist die historische Zugbrücke. Ein bisschen Holland in der Mark. Jahrhundertelang stritten die Stadt Niederfinow (weiter nördlich) und die Burg Finow (heute Hohenfinow) um die Zollrechte – bis 1900 der preußische Staat den Brückenbetrieb übernahm.

Ziel sind die beiden Schiffshebewerke von Niederfinow. 36 Meter Höhenunterschied überwinden die Schiffe. Nachdem der bisher begangene Finowkanal Ende des 19. Jahrhunderts an seine Belastungsgrenze gestoßen war, beschloss die preußische Regierung 1905 den Bau des „Großschifffahrtsweges Berlin–Stettin“. Zunächst entstand eine vierstufige Schleusentreppe. Sie war 1912 bis 1972 in Betrieb. Die meisten der alten Schleusenkammern sind noch vorhanden – sie holt sich inzwischen die Natur zurück.

Youtube-Video auf Schiffshebewerk Niederfinow

Das südliche Schiffshebewerk Niederfinow wurde 1934 eröffnet und ist das älteste in Betrieb befindliche in Deutschland. Selbst wenn ein Frachtschiff 1.200 Tonnen wiegt, dauert es im „Schiffsaufzug“ lediglich fünf Minuten zum Überwinden des Höhenunterschied. Das Informationszentrum des Wasser- und Schifffahrtsamts Eberswalde am Fuße und ein Rundweg informieren über Technik und Geschichte. Ausflugsdampfer bieten Rundfahrten durch die Anlage.

Gleich neben an entsteht das neue, nördliche Schiffshebewerk. Es soll seinen Vorgänger entlasten und ersetzen. Moderne Binnenschiffe können es nicht mehr passieren und wegen der geringen Trogwassertiefe nicht voll beladen werden. Der neue Trog soll 115 Meter Nutzlänge, 12,5 Meter Nutzbreite und vier Meter Tiefe erhalten. Da ein Schiff stets so viel Wasser verdrängt, wie es selbst wiegt, bleibt das Gewicht des wassergefüllten und 9.800 Tonnen schweren Troges immer dasselbe. Mitte der 2020er soll das 285 Millionen teure Bauwerk eröffnen.

Übrigens: Eberwalde war nicht nur Industriestandort sondern im 19. Jahrhundert viel besuchter Kurort mit heilsamen Quellen. Im Süden der Stadt befindet sich mitten im Wald der Zoologische Garten. Weltweit anerkannt ist die Hochschule für nachhaltige Entwicklung.

Falls Du mit dem Fahrrad unterwegs bist, kannst Du noch einen Umweg zur Kanalbrücke etwas nördlich vom Eberswalder Hauptbahnhof einlegen. Hier herrscht verkehrte Welt: Unten die Züge, oben die Schiffe. Der Oder-Havel-Kanal führt in einer Trogbrücke über die Berlin-Stettiner Eisenbahn. In den 200er Jahren wurde nebenan eine neue Überführung gebaut und die Eisenbahn durch einen kurzen Tunnel unter dem Gewässer hindurch geführt.

Oder fahre vom Schiffshebewerk gleich weiter durch die weite Waldlandschaft des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin zum Kloster Chorin. Die alte Zisterzienserabtei ist ein eindrucksvolles Werk gotischer Backsteinarchitektur (8 km vom Schiffshebewerk). Einige Kilometer entfernt hält jede Stunde der Regionalexpress RE 3 am Bahnhof Chorin.

Lust auf mehr? Auf Railtripping findest Du weitere Wanderungen und Radtouren durch Berlin und Brandenburg. Mit Tipps und Tricks zur Fahrradmitnahme und zum besten Ticket.


Mit Bus und Bahn an den Finowkanal

Die Linien RE 3 und RB 24 der Deutschen Bahn verkehren 2x/Stunde jede Stunde von Berlin nach Eberswalde. Alle Fahrpreise und Fahrpläne beim Verkehrsverbund VBB.

Durch die Stadt verkehren Oberleitungsbusse auf den Linien 861 und 862. Jeweils alle 15-30 Minuten. Es ist eines von drei O-Bus-Netzen in Deutschland. Nächste Haltestelle am Wasserturm ist Finow, Erich−Steinfurth−Straße. Die Buslinie 864 verkehrt stündlich, am Wochenende zweistündlich.

Vom/zum Schiffshebewerk gelangst Du mit der Buslinie 916 (Mo-Fr stündlich, Sa+So 3x täglich) und mit der Regionalbahn RB 60 der Niederbarnimer Eisenbahn stündlich von Eberswalde nach Niederfinow (2 km Fußweg).

Westlicher Wanderweg (Industriekultur): Wasserturm Finow – Wolfswinkel 4 km – Familiengarten 5 km – Hauptbahnhof 8 km

Östlicher Wanderweg (Altstadt und Natur): Hauptbahnhof – Altstadt 2 km – Ragöser Schleuse 5 km – Stecherschleuse 9 km – Bahnhof Niederfinow 11 km – Schiffshebewerk 14 km. Beide Wanderwege 22 km

Mehr Lesestoff:
– Broschüre zur Industriekultur Eberwalde
– Sonderangebot Eberswalder Höhenpass
– Gute private Webseite zur Geschichte der Industriedenkmäler

Auf geht’s: Fahrplan und Fahrpreis

 
 
 
 
Michael Bartnik
Vor 20 Jahren, als ich in einem kleine Reisebüro Ferien verkaufte, brachte die Deutsche Bahn ihr legendäres Schönes-Wochenende-Ticket auf den Markt, das den Wochenendtrip viel erschwinglicher machte. Wir erfanden einen Reiseführer für Bahnausflüge.