Zum Christkindelmarkt, Stollen und Herrnhuter Stern ins alte Görlitz

Es duftet nach Waffeln, gebrannten Mandeln und Gewürzen. Kunsthandwerker und Händler bieten ihre Waren feil. Zur Stärkung gibt es schlesischen Mohnstollen und zum Aufwärmen Glühwein. In der Oberlausitz, der Heimat des Herrnhuter Sterns, gibt es einen Weihnachtsmarkt vor ganz besonderer Kulisse: dem Christkindelmarkt in der historischen Altstadt von Görlitz.

Ein „steingewordenes Geschichtsbuch der Architektur“ ist die 55.000-Einwohner-Stadt mit ihren 4.000 denkmalgeschützten Gebäuden. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Städten blieb Görlitz von den Bomben des Zweiten Weltkrieges und den Bausünden der Nachkriegszeit verschont. Geblieben ist eine geschlossene Altstadt mit verwinkelten Gassen, massiven Befestigungsanlagen, ehrwürdigen Kirchen, reich verzierten Fassaden und Bürgerhäusern aus allen Epochen – von der Gotik über die Renaissance und den Barock bis hin zum Jugendstil. 2010 feierte sich Görlitz als europäische Kulturhauptstadt. Vom Bahnhof gelangt man den Straßenbahngleisen folgend durch die Berliner Straße über den Postplatz direkt in die Altstadt.

Grand Budapest Hotel

Erste Station des Stadtrundgangs ist das alte Jugendstil-Kaufhaus mit seinen verzierten Treppen und Brücken zwischen den Etagen, kunstvollen Leuchtern und bunten Ornamenten in der Glaskuppel und seiner wechselvollen Geschichte: 1913 eröffnet nach dem Vorbild des berühmten Wertheims am Leipziger Platz in Berlin, seit den goldenen Zwanzigern ein Karstadt, zu DDR-Zeiten ein Centrum Warenhaus, nach der Wende wieder ein Karstadt, später ein Hertie, dann der Konkurs.

Jahre stand das großartige Gebäude leer. Es war sein Glück im Unglück: Wes Anderson entdeckte es – und quartierte hier für seinen liebevoll exzentrischen gleichnamigen Spielfilm das „Grand Budapest Hotel“ ein, der eindrucksvoll inszeniert die wechselvolle Geschichte zwischen den Zwanziger Jahren, dem Krieg und dem Sozialismus nacherzählt. Der Oscar-prämierte Blockbuster ist der Höhepunkt von „Görliwood“, das immer wieder zur Filmkulisse wird. 2021 will ein Investor wieder ein „KaDeWe des Ostens“ im Jugendstil-Kaufhaus eröffnen.

Weiter durch die Altstadt: Vorbei am Naturkundemuseum und dem klassizistischen Theater geht es zur massigen Kaisertrutz mit dem Kulturhistorischen Museum, das unter anderem die Geschichte der Stadt zeigt. Gegenüber steht der Reichenbacher Turm. Aus der früheren Türmerwohnung hat man einen wunderbaren Blick über die Dächer, Giebel und Türme der Altstadt. Im Hintergrund stehen die Neubauten der Vorstädte und der polnischen Zwillingsstadt Zgorzelec. Und im Südwesten erhebt sich noch vor dem Oberlausitzer Bergland die Landeskrone – Wanderziel und Wahrzeichen Görlitz’.

Schlesischer Weihnachtsmarkt

Hinter dem Reichenbacher Turm öffnet sich der großzügige Obermarkt. In ganzer Länge säumen ihn in ganzer Länge vor allem barocke Bürgerhäuser. Da sind wir: auf dem Schlesischen Christkindelmarkt mit seinen Glühweinbuden, Handwerk aus dem Dreiländereck, Eislaufen, Bühnenprogramm – und großem Weihnachtssingen. Überall leuchten die berühmten Herrnhuter Sterne, die hier ihre Heimat haben. Immer zwei Wochen lang im Dezember.

Wer außerhalb des Advents nach Görlitz kommt, muss auf Weihnachtsdevotionalien nicht verzichten: Am östlichen Ende des Obermarkts, gleich in der Fleischerstraße öffnet zu allem Jahreszeiten das Weihnachtshaus seine Pforten. Hier gibt es erzgebirgische Pyramiden, handgefertigte Baumkugeln und originale Herrnhuter Sterne.

Heimat des Herrnhuter Sterns

1722 gründeten aus Böhmen kommende, evangelisch-freikirchliche Brüder den Ort Herrnhut (20 Kilometer südlich von Görlitz). Der erste Stern wurde wohl Anfang des 19. Jahrhunderts in einer Knabenanstalt in Niesky der Herrnhuter Brüdergemeinde gebaut. Zunächst stellten die Erzieher und Schüler die Sterne selbst her. Es waren Geschenke für ihre Eltern, die sich auf Missionsreisen befanden. Später begann die manufakturmäßige Produktion. Bis heute werden die Sterne von Hand hergestellt.

Den eindrucksvollen Abschluss des Obermarkts bildet die kostbar ausgestattete, gotische Dreifaltigkeitskirche mit ihrem opulenten Schnitzaltar „Goldene Maria“. Hier beginnt die schmale Brüderstraße. Gleich am Anfang befindet sich auch die Touristeninformation: Hier starten regelmäßig Stadtführungen. Abends gibt es schauspielerische Touren mit dem Stadtwächter, der Tuchmacherwitwe Agneta, dem schlesischen Tippelweib Heidi, dem Sagenerzähler Schreyhals, einer Pilgerführerin, dem Braumeister oder den Location Scouts großartiger Spielfilme. Der Stadtschleicher-Kleinbus bietet während seiner anderthalbstündigen Rundfahrt eine Verschnaufpause für lahme Beine.

Am Turm des alten Rathauses wurden schon vor über 400 Jahren die beiden Kunstuhren mit den goldenen Zeigern installiert. An der Ecke steht die Treppe zur Verkündigungskanzel mit der Justitiasäule. In alter Tradition schreitet sie das Görlitzer Christkindel hinunter, zum Glockenklang der Kirchen, dem Gesang der Kurrende und festlicher Bläsermusik, um den Christkindelmarkt zu eröffnen.

Liebliche Flüsterereien

Der Untermarkt wird geteilt durch einige Geschäftshäuser, die Zeile, und die Alte Börse auf deren Rückseite. Sie ist Musterbau des Hochbarocks. Ihr gegenüber, etwas unscheinbar im Hauseingang der Nummer 22, befindet sich der Flüsterbogen. Vom einen Ende des Torbogens kann man seiner Begleitung am anderen Ende ein paar liebe Worte durch die Kehlung flüstern. 

Das Eckhaus zur Peterstraße ist die ehemalige Ratsapotheke (heute Café). Reich verziert sind das Portal und die Fassade mit den beiden Sonnenuhren „Solarium“ und „Arache“. Diese Querstraße hinunter geht es zu Sankt Peter und Paul mit den beiden weißen, gotischen Türmen. Sie ist größte Kirche und Predigtstätte des Bischofs der schlesischen Oberlausitz. Im Innern prunkt eindrucksvolles, barockes Inventar; darunter besonders die Sonnenorgel.

Steil geht es hinab ins Neißetal. Einige Wohnhäuser schmiegen sich an die alten Stadtmauern. Rechtzeitig zum EU-Beitritt Polens wurde 2004 die Altstadtbrücke über den Grenzfluss ins polnische Zgorzelec wiedereröffnet. Bis Kriegsende waren beide Stadthälften eins. Nach Jahrzehnten der Teilung engagieren sich nun beide Städte in der Annäherung. In der Neißstraße, die zurück zum Untermarkt führt, befinden sich, ebenso wie am Untermarkt selbst, allerlei einladende Restaurants und Cafés zum Verschnaufen und Stärken.

Grab Jesu ohne Jerusalem

Wer danach noch Puste hat, sollte einen Abstecher zum Heiligen Grab einlegen. Ende des 15. Jahrhunderts brachte Bürgermeister Emmerich nach seiner Sühne-Pilgerreise Baupläne der Heiligen Stätten von Jerusalem mit. So wurde ein Landschaftsgarten mit den Kapellen angelegt, der die Topographie Jerusalems mit Via Dolorosa, Golgatha, Kidrontal, Jüngerwiese und Ölberg nachzeichnet. Die Heiliggrab-Kapelle ist eine verkleinerte Kopie des Grab Christis in seiner mittelalterlichen Gestalt.

Fakten zur Fahrt

Ab Berlin fahren stündlich in 2½ Stunden Regionalzüge nach Görlitz — mit Umsteigen in Cottbus. Am günstigsten ist die Hin- und Rückreise meistens mit dem Quer-durchs-Land-Ticket für 44 Euro (plus je 8 Euro für jede weitere Begleitung; bis zu fünf Personen).

Ab Dresden fahren stündlich in 1½ Stunden durchgehende Regionalzüge nach Görlitz. Am günstigsten ist Hin- und Rückreise meistens mit dem Sachsen-Ticket für 25 Euro (plus je 7 Euro für jede weitere Begleitung; bis zu fünf Personen).

Fotos © Bart Giepmans / Elke Stamm

Michael Bartnik
Vor 20 Jahren, als ich in einem kleine Reisebüro Ferien verkaufte, brachte die Deutsche Bahn ihr legendäres Schönes-Wochenende-Ticket auf den Markt, das den Wochenendtrip viel erschwinglicher machte. Wir erfanden einen Reiseführer für Bahnausflüge.